– eines der bedeutendsten Zeugnisse des Neuen Bauens …
Am 9.11. machte sich eine Gruppe Schülerinnen der 12. Jahrgangsstufe aus den zwei Kunstkursen von Herrn Grüger auf, um zusammen mit Frau Baier die Weite des Architektur-Universums zu erkunden, während andere gemütlich ihr Freitagmittagsschläfchen genossen. Daß wir einfach so einen ganzen Tag lang den Vorhaben unseres engagierten Lehrers „schutzlos“ ausgesetzt waren, mag sich natürlich erstmal nach einer himmelschreienden Ungerechtigkeit anhören; allerdings stellt sich im Nachhinein wohl eher die Frage, ob nicht die friedlich Schlummernden den Kürzeren gezogen hatten. Natürlich sprechen wir hier nicht von einer Exkursion, die zum Vergnügen getätigt wurde. Es handelt sich um ein fächervertiefendes, unterrichtserweiterndes und ohne Zweifel didaktisch-wertvolles Projekt – auch wenn es nicht so klingen mag, ist das ohne jeglichen Hauch von Ironie zu verstehen.
Manch einer könnte sich an dieser Stelle wundern, welchen pädagogischen Hintergrund eine solche Fahrt mit sich bringe, da Kunst doch eigentlich nur aus Malen, Zeichnen und Tonen bestehe. Leider – oder eher zum Glück – nicht! Der Kunstunterricht der Oberstufe vermittelt die verschiedensten Facetten des kreativen Gestaltens. Natürlich sind die eben genannten Bestandteile tatsächlich sowohl in den Jahrgangsstufen 11 und 12 als auch in den niedrigeren Stufen umfassende zu behandelnde Kapitel, doch bietet die Kunstgeschichte noch Vieles mehr. Die Architektur der Vergangenheit und auch die der Moderne spielen eine große Rolle zum Verstehen des damaligen Kunstbegriffs. Und so kommt es, dass wir den architektonischen Umbruch der 30er Jahre unter der Leitung von Ludwig Mies van der Rohe, der vielleicht auch eher als konsequenter Stilbruch zu betiteln wäre, hautnah erleben durften.
Man muss dazu sagen: Wir sprechen hier nicht von irgendeiner beliebigen architektonisch einigermaßen wertvollen Wohnsiedlung, die sich zwar heutzutage in Teilen nahezu unmerklich in das aktuelle Stuttgarter Stadtbild einfügt, aber vor fast 100 Jahren einen Normbruch ohne Gleichen darstellte; sondern wir sprechen von einer zum UNESCO-Weltkulturerbe ernannten Häuserformation. Es mag vielleicht ein wenig befremdlich klingen, dass eine in den Augen eines kunstfernen Betrachters „normale“ Wohnsiedlung zum Weltkulturerbe ernannt wird, diese Wertschätzung hat aber dennoch in jeglicher Hinsicht ihre Berechtigung, wie wir an selbst erarbeiteten Kriterien feststellen durften.
Die wechselvolle Geschichte der Weißenhofsiedlung spiegelt die gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen des 20. Jahrhunderts wider. Im Dritten Reich verfemt, im Zweiten Weltkrieg teilweise zerstört, begegnete man der Siedlung auch anschließend mit Ignoranz. Erst 1958 wurde die Weißenhofsiedlung unter Denkmalschutz gestellt. Museum und gleichzeitig auch Zentrum der Wohnsiedlung ist das Doppelhaus von Le Corbusier, einem der einflussreichsten Architekten des 20. Jahrhunderts und heute als einer der bedeutendsten Architekten der Moderne bekannt – damals allerdings nur in Kreisen der internationalen Avantgarde anerkannt. Im Jahr 2002 gelang es der Stadt Stuttgart, das Doppelhaus von Le Corbusier zu erwerben, um darin das Weißenhofmuseum einzurichten.
Es erscheint vielleicht ein wenig überzogen, die weite Reise nach Stuttgart auf sich zu nehmen, um ein Haus zu begutachten, das man auch innerhalb von fünf Minuten im Internet hätte bestaunen können. Aber die Weißenhofsiedlung und ihre Geschichte bieten viel mehr als nur vier Wände und ein nicht vorhandenes rotes Satteldach, dessen Ermessen ausschließlich anhand medialer Materialien deutlich werden könnte, wie uns von zwei Expertinnen vor Ort veranschaulicht wurde. Mit seinem außergewöhnlichen und extravaganten Wohnkomplex schuf Le Corbusier ein praktikables aber auch neu-ästhetisches Residieren, das es so zuvor noch nie gegeben hatte. In der kurzen Bauzeit von nur 21 Wochen entstanden 21 Häuser mit insgesamt 63 Wohnungen. Anhand massiver innenarchitektonischer Verstöße gegen die Normen der damaligen Zeit wurden uns die Absichten des Architekten deutlich. Es erwartet den Besucher eine ungewohnte Atmosphäre in einem ungewohnten Raum, der von ungewohnten Farbkombinationen aus blau, braun und apricot dominiert wird und an ein ungewohnt spartanisch eingerichtetes Zugabteil aus den 20er Jahren erinnert. Mit gemischten Gefühlen begibt sich der Besucher zur Dachterrasse des Doppelhauses, die eine Weitläufigkeit gegen Osten zeigt, welche auch in den darunterliegenden Geschossen durch durchgehende Fensterfronten fortgeführt wird.
Fortsetzen lässt sich der Rundgang durch die Weißenhofsiedlung an einer Reihenhausfront, die sich auch ohne Zweifel als ebensolche bezeichnen lässt – weiße Mauertürme, kleine Fensterschlitze mit grauer Umrandung und kastenförmige Bauweise – et voilà, die Architektur der Moderne. Als große Gruppe staunend durch eine bewohnte Siedlung zu streifen, ruft in dem ein oder anderen ein seltsames Gefühl hervor, das aber auch durch die ungewöhnlichen Häusertrakte nicht unbedingt vermindert wird.
Im Kontrast dazu befindet sich circa fünf Gehminuten entfernt die Kochenhofsiedlung im Stadtteil Killesberg, eine 1933 unter der Leitung des Architekten Paul Schmitthenner in Holzbauweise errichtete Modellsiedlung. Erklärtes Ziel war es, ein bewusst traditionalistisches Gegenmodell zur nahegelegenen Weißenhofsiedlung zu schaffen. Zu den Bauauflagen gehörte unter anderem, dass alle Gebäude ein Satteldach mit einem Mindestwinkel von 35 Grad haben und in Holzbauweise errichtet werden mussten. Letzteres sollte dazu beitragen, die Haltbarkeit und Wirtschaftlichkeit von Holzbauten zu offenbaren und auf altbewährte Modelle des Wohnens zurückzugreifen, um die Architektur der Weißenhofsiedlung offen in Frage zu stellen oder gar zu kritisieren. Gegner dieser traditionalistischen Bauweise bezeichneten die Kochenhofsiedlung deshalb witzelnd als „Holzwurmsiedlung“. Vermutlich ist es aber nicht unserem Fabel für Holzwürmer geschuldet, dass wir einstimmig diese Siedlung als Wohnort bevorzugen würden, sondern eher der Erinnerung an Satteldächer auf roten Holzhäusern mit weißen Fensterläden aus Kindertagen, die dieses heimische Gefühl in uns erwecken.
Nach dieser aufschlussreichen und definitiv lohnenswerten Exkursion fühlen wir uns bestens gewappnet für die noch kommenden architektonischen Fragen und Themen im Kunstunterricht.
Lea Hemberger & Jana Hertel, Q12